Herdentiere

Ohne ihre Herde können Pferde in Freiheit kaum überleben. Sie leben in Familiengruppen mit mehreren, meist miteinander verwandten Stuten und ihren Fohlen. Wenigstens zeitweise ist auch ein Hengst dabei. Die Junghengste leben in eigenen Junggesellengruppen.
Die Herde gibt Sicherheit und Schutz. Eine Pferdeherde hat feste Regeln. Es gibt ein Leittier, meist eine erfahrene Stute. Ihrem Urteil vertrauen die anderen Tiere. Sie entscheidet, ob die Herde flieht oder nicht. Sie führt die Herde zu guten Futter- und Wasserstellen. Auf der Flucht gibt sie Richtung und Tempo vor. Der Hengst schützt die Herde von hinten. Er achtet darauf, dass kein Tier zurück bleibt. Notfalls verteidigt er die Herde mit Hufen und Zähnen. Erwachsene Stuten bilden zum Schutz der Fohlen einen Kreis, in dem Raubitere die Fohlen nicht erreichen. Die Stuten verteidigen die Fohlen.
Die Herde gibt den Pferden Ruhe zum Fressen und Schlafen oder zur Aufzucht der Fohlen. Mindestens ein Herdenmitglied hält Wache, wenn die anderen schlafen.

Einander fremde Pferde halten oft über mehrere Tage einen gewissen Abstand zueinander ein. Dieser Individualabstand ist von Tier zu Tier unterschiedlich. Einige lassen fremde Pferde gleich sehr nah heran, andere fliehen oder drohen bereits, wenn sich das fremde Pferd nur in seine Richtung dreht.
In einer gefestigten Herde ist der Individualabstand fast aufgehoben. Die Tiere stehen, fressen und schlafen mit Körperkontakt. In einer von Menschen zusammengesetzten Herde kann es dennoch Tiere geben, die ausgegrenzt werden oder die sich nicht in die Herde einordnen können. Das verursacht Stress auf beiden Seiten. Nach Möglichkeit sollte man es dann mit einer anderen Herde versuchen.

Auch dem Menschen gegenüber muss das Pferd erst Kontakt aufnehmen.  Man sollte ihm Zeit lassen, es auch emotional nicht überfordern. Lassen wir ihm ausreichend Zeit, uns kennen zu lernen. Verlangen wir gleich, dass wir es überall anfassen dürfen. Dazu braucht es erst Vertrauen.
   
Die Rangordnung weist jedem Tier seinen Platz in der Herde zu. Sie stellt sicher, dass jedes Tier ausreichend Wasser, Futter und Schutz hat. So überleben möglichst viele Tiere schlechte Zeiten oder Gefahren.
Das Sprichwort „Den letzten beißen die Wölfe!“ haben selbst Hauspferde so verinnerlicht, dass sie ungerne am Ende einer Gruppe gehen oder zurückbleiben.
Pferde sind allein nervös, aufgeregt und besonders aufmerksam. Nur wer eine Gefahr früh genug erkennt, kann rechtzeitig fliehen.  Die Herde hat viele Augen und Ohren.
Gemeinsamkeit ist für Pferde sehr wichtig. Herdentiere suchen von sich aus die Gesellschaft. Ihr Instinkt sagt ihnen, dass sie alleine nicht sicher sind. Man kann davon ausgehen, dass im Gehirn wie beim Menschen auch durch soziale Kontakte ein Hormon (Oxytocin) ausgeschüttet wird, das zufrieden macht.

In Spielen üben schon junge Fohlen, wie die Rangordnung in einer Herde funktioniert. Immer kommt es im Spiel auf eine Frage an: Wer bewegt wen? Wer bestimmt das Spiel?
Der Ranghöhere bewegt den Rangniedrigeren. Der Stärkere springt auf den Schwächeren, das dominante Pferd drückt das schwächere auf den Boden. Bisse in Vorderbeine, Hinterbeine, die Kehle oder den Mähnenkamm sind Teil von Rangeleien. Rangeleien mit Lippen und Zähnen am Kopf des Gegners, auf den Hinterbeinen, Auskeilen und Tritte gehören ebenso zu den Spielen der Pferde wie wilde Verfolgungsjagden.

Lebt ein Pony in einer Herde, wird man  solche Szenen öfter beobachten. Jeder Paddock und jede Weide muss so eingezäunt und aufgeteilt sein, dass wilde Spiele gefahrlos möglich sind. Kein Pferd darf in eine Ecke gedrängt werden, aus der es nicht mehr heraus kommt. Die Böden müssen so sicher sein, dass auch bei Regen Spiele möglich sind und kein Pferd sich ernsthafte Verletzungen zuzieht.

 
Die Spiele der Pferde bereiten sie auf ihren Platz in der Rangordnung vor. Jedes Pferd lernt, sich an die Regeln zu halten. Bereits im Fohlenalter stellt sich heraus, wer später einmal ranghoch, stark, mutig und selbstbewusst und wer eher ruhig, ausgeglichen, verträglich, vermittelnd, wer eher vernünftig und besonnen ist.
Es gibt Leitstuten und Leithengste, die mit Stärke und Durchsetzungsvermögen führen und solche, denen die Herde aufgrund ihrer Erfahrung und Ruhe, ihrer Ausgeglichenheit und Souveränität folgt.
Nicht immer ist der Herdenchef das gesündeste, stärkste Tier. Manchmal ist es auch das älteste, erfahrenste, selbst wenn es sich körperlich nicht mehr durchsetzen könnte.

   
In der Natur ist ein Pferd fast nie allein. Es wird sich von sich aus nicht weit von seiner Herde entfernen. Arbeits- und Reitpferde müssen erst lernen, ihre Herde regelmäßig zu verlassen. Sie fühlen sich anfangs alleine gelassen, bekommen Angst, rufen ihre Herde. Diese wird antworten. Das Pferd lernt in kleinen Schritten, so kann man sich mit dem Pferd immer ein bisschen weiter entfernen. Es lernt, dass ihm auch alleine nichts geschieht.
Ihr Bedürfnis nach Nähe lässt Pferde sich allerdings auch dem Menschen anschließen, der dann die Verantwortung des Herdenchefs übernimmt - und das Vertrauen des Tieres möglichst nicht enttäuschen sollte.

Wenn ein Pony gelernt hat, dass es vom Menschen nichts zu befürchten hat und wir es später wieder zu seiner Herde bringen, wird es „seinen Menschen” als Herdenchef-Ersatz akzeptieren. Dann sind wir für seine Sicherheit verantwortlich. Es wird uns vertrauen. Niemals sollte man seinem Pony befehlen etwas zu tun, vor dem es Angst hat oder das ihm Schmerzen bereiten könnte. Ein Herdenchef darf das Vertrauen nicht enttäuschen.

Der Mensch kann die Rolle des Herdenchefs übernehmen und das Pferd führen, wenn er mit ihm arbeitet. Vertrauen in die „Stärke“ des Menschen ist die Voraussetzung. Ein Pferd vertraut nur einem Chef, der es schützen kann. Das muss der Reiter beweisen.

Wenn wir mit einem Pferd arbeiten oder ihm Neues beibringen möchten, sorgen wir zunächst dafür, dass es uns vorher vertraut. Man kann auch ein zweites Pony dazu nehmen, das unser Pony gut kennt. Zu zweit werden sie alles viel leichter lernen.
In harmlosen Gefahrensituationen (Mülltonne am Wegesrand, Wasserschlauch auf dem Boden) kann man seinem Pony beweisen, dass ihm in unserer Gegenwart nichts passiert. Dazu muss man sich - als Mensch - aber sicher sein, dass ihm - als Pferd - wirklich nichts geschieht. Gewonnenes Vertrauen ist dann Grundlage für die Bewältigung echter Gefahrensituationen, in denen uns das Pferd vertrauen muss, weil es die Situation aus seiner Sicht nicht einschätzen kann (Erntegerät kommt in einer engen Straße entgegen, Jäger auf dem Feld neben dem Paddock).

Experimente haben ergeben, dass Tiere ruhiger und entspannter sind, wenn sie mit einem Freund zusammen sind. Dann haben sie weniger Angst, sind mutiger und lassen sich gerne auf Neues ein. Du kennst das gute Gefühl, wenn du dich nicht alleine fühlst. Du hast keine Angst, du bist entspannt, neugierig und unternehmungslustig. Wenn du die Menschen magst, die mit dir zusammen sind, gelingt dir alles viel besser. So ähnlich geht es auch den Pferden. Wenn sie sich bei dir wohl fühlen und keine Angst haben, sind sie entspannt und können viel besser lernen.
Soziale Beziehungen wirken sich auch auf die Gesundheit aus, weil weniger Stress entsteht.

Wer lange Freude an einem körperlich und seelisch gesunden, ausgeglichenen und zufriedenen Pony haben möchte, sollte dafür sorgen, dass sich das Pony immer sicher fühlt. Dazu braucht es Artgenossen, mit denen es den größten Teil des Tages verbringen kann.

Der Drang zu Gesellschaft ist bei Pferden sehr stark ausgeprägt. Sie schließen als Ersatz für Pferdekumpel auch mit anderen Haustieren Freundschaften. Solche Freundschaften sind dem einzelnen Pferd genauso wichtig wie die Freundschaft zu einem Pferdekumpel.

Ein Pferd kann durchaus sehr an einem Hund, einer Ziege, einem Schaf oder auch einem Esel hängen. Manche Pferde lassen sich ohne ihren „exotischen” Freund nicht verladen oder verlassen ohne ihn nicht den Hof. Einige lassen sich leichter vom Tierarzt behandeln, wenn der Besitzer oder der vertraute Hund dabei ist. Die Verständigung zwischen z.B. Pferd und Esel oder Pferd und Hund funktioniert auf ganz besondere Art. Beide scheinen in der Lage zu sein, „Fremdsprachen” zu lernen. Selbst den Hund auf dem Rücken dulden viele Ponys, sogar einen zärtlichen „Biss” in die Mähne ordnen sie nicht als Angriff ein. Umgekehrt kann man Ponys beobachten, die zu mehreren um einen verschreckten Hund herum stehen und ihn mit den Nüstern beruhigen, sogar vorsichtig zu beknabbern versuchen. Zwischen Pferd und Esel gibt es echte Freundschaften, die sehr spontan entstehen und eindeutig „personenbezogen” sind. Ein bestimmter Esel sucht sich einen bestimmten Ponypartner aus. Oder umgekehrt. Trotz unterschiedlichen Herdenverhaltens halten diese Freundschaften.