Bewertungen und Wahrnehmungen


Lernen bedeutet, Wahrnehmungen zu bewerten und neu einzuordnen. Ein Pferd kann lernen, vor einem Gegenstand oder einer Situation keine Angst zu haben. Es bewertet also den Angstauslöser vorher anders als nach dem Lernerfolg, vorher ist das beobachtbare Verhalten ein anderes als nachher.
Auch gegenseitig beobachten sich Pferde sehr genau. Sie schätzen anhand des Verhaltens des anderen ab, ob der wohl beabsichtigt, ihm sein Futter streitig zu machen.  Sie bewerten die tolerierbare Individualdistanz, wenn ein Konkurrent sie möglicherweise unterschreiten könnte.
Das rangniedrigere Pferd trollt sich, wenn ein ranghöheres eine gewisse Distanz unterschreitet, das ranghohe Pferd verteidigt seine Stellung, wenn ein rangniedrigeres zu nahe kommt.
In unbekannten Situationen ordnen sie ihre Wahrnehmung nach den ihnen bekannten Maßstäben ein. Laute Reize werden durch eher unempfindliche, neugierige Pferde ganz anders eingeordnet als vom eher nervösen, ängstlichen, geräuschempfindlichen Kumpel.

Beispiel: Ein Pferd bleibt mit dem Steigbügel z.B. an einer Mülltonne hängen, gerät in Panik, rennt davon. Anschließend scheut es erstmal vor dieser Situation. Es lernt aber schnell, dass die Mülltonne an sich nicht gefährlich sind. Es bewertet die Mülltonne  neu und kann sie sogar ausgesprochen gut finden.

Wie oft Pferde Wahrnehmungen bewerten und einordnen, bemerken wir im Alltag gar nicht mehr. Jeder Lernprozess ist mit Bewertungen verbunden, jedes Abrufen eines gelernten Verhaltens basiert auf der Einordnung durch das Pferd, ob und wofür ein Reiz relevant ist. Die Bewegung seines Reiters im Sattel kann ein Pferd ziemlich sicher nach relevant (z.B. für eine Richtungsänderung oder eine Änderung der Geschwindigkeit - „jetzt muss ich dies oder jenes tun”) oder nicht relevant (Reiter putzt sich nur die Nase, redet mit dem Hund, zieht sich die Jacke zurecht - „ich bin nicht gemeint”) unterscheiden. Die Pferde zeigen in diesem Zusammenhang fast hellseherische Fähigkeiten.

Beispiel: Gut eingespielte Reiter-Pferde-Paare verständigen sich so subtil, dass der Reiter  einem anderen eine Übung (z.B. Schenkel an die richtige Stelle zum Antraben) demonstrieren kann, ohne dass sein Pferd den Befehl ausführt. Es unterscheidet, ob es wirklich vorwärts gehen soll oder ob der Reiter den Befehl gar nicht an das eigene Pferd gerichtet hat.