Vertrauen als Grundlage


Der Umgang mit einem großen und sehr starken Tier wie einem Pferd will gelernt sein.
Das Pferd ist ein von Natur aus sehr vorsichtiges, eher ängstliches Tier. Neue Situationen, Gegenstände oder auch Personen machen ihm Angst. Heftigste Reaktion auf diese Angst ist die spontane Flucht. Ein von Panik getriebenes, durchgehendes Pferd ist nicht mehr ansprechbar; es wird alles dransetzen, der Situation zu entkommen. Es tobt und wehrt sich so lange, bis es ausreichend Abstand zwischen sich und den Auslöser seiner Angst gebracht hat. Diese Reaktionen liegen in der Natur des Pferdes.
Der tägliche Umgang mit dem Pferd soll möglichst ohne Gefahr sein. Also muss man dafür sorgen, dass nicht schon alltägliche Dinge den Fluchtinstinkt auslösen.
Viele Dinge des Alltags auf modernen Höfen, im Straßenverkehr oder auf Veranstaltungen entsprechen dem Feindbild des Pferdes: plötzliche Bewegungen am Boden (anschleichendes Raubtier), Bewegungen oder Berührungen von oben (Raubtier auf dem Baum), unbekannte Gegenstände (verstecktes Raubtier) oder Geräusche (Raubtier im Gebüsch)...
Pferde müssen lernen, wehende Wäsche, Mülltonnen am Wegesrand, laute Traktoren oder den Reiter auf dem Rücken zu akzeptieren. Sie sind neugierig genug, die Dinge zu erkunden. Dann erkennen sie sie als ungefährlich. Dazu brauchen sie Zeit, Ruhe und eine Person, der sie vertrauen.
Ein entsprechend ausgebildetes Pferd kann auch mit unvorhergesehenen Stress-Situationen besser fertig werden. Es hat gelernt, dass ihm in Anwesenheit seines Menschen nichts geschieht. Ängstlich, manchmal bebend und zitternd, hält es dann so manche Situation aus, vor der es eigentlich lieber seinem Instinkt folgend davonlaufen würde.


 

Das Denkkonzept des Dominanzverhaltens - der Reiter beherrscht sein Pferd, in dem er seine natürlichen Reaktionen in der Rangordnung kennt und ausnutzt - muss vor dem Hintergrund der sehr individuellen und sehr variablen Verhaltensmöglichkeiten jedes einzelnen Pferdes in einer Herde, aber auch zu artfremden Individuen grundsätzlich in Frage gestellt werden.

 

Pferde sind auch in der Natur und in ihrer Herde nicht nur "dominant" oder nur "unterwürfig", sie halten auch keine absolut feste Rangfolge ein. Selbst in kleinen Herden ändert sichz.B. das Führungs- und Folgeverhalten der Tiere viele Male am Tag. In bestimmten Situationen ist ein besonders "starkes" (durchsetzungfähiges) Tier das "Alpha-Tier, in anderen Situationen vertraut es aber gerne einem mutigeren, schnelleren, intelligenteren, erfahreneren oder ruhigeren Tier.

Und der Führer der Herde muss nicht einmal ein Pferd sein.

 

Wenn von Dominanz des Reiters über sein Pferd die Rede ist, aufgrund derer er es "natürlich" beherrschen kann, nutzen wir vermutlich eher das natürliche Angstverhalten des Tieres.

Die meisten Pferde werden sich einem - mit welchen Mitteln auch immer - durchsetzungsfähigen Gegenüber unterordnen, wie sie es auch in der Herde tun können. Aber sie müssen es nicht. Im Verhaltensrepertoire eines Pferdes liegt auch das immer wieder neue Infragestellen seiner individuellen Beziehungen.

Einmal untergeordnet bedeutet in der Psyche eines Pferdes nicht ein für alle mal untergeordnet. Solche Beziehungen können nur mit Gewalt des Menschen gegenüber dem Tier aufrecht erhalten werden.

 

 

Einmal erreichter "Gehorsam" muss daher nicht jeder Person gegenüber und nicht immer gleich auftreten.

Unterordnung ist nicht ein für allemal gelernt. In der Herde ist das auch nicht so. Auch das dominanteste Pferd einer Herde zeigt "schwache" Momente oder folgt in bestimmten Situationen einem anderen Tier.

So wird auch ein Pferd jedem Menschen individuell gegenübertreten und in jeder Situation neu entscheiden können.

Wir müssen als Reiter damit rechnen, dass sich das Pferd uns gegenüber mit seinem gesamten Verhaltensrepertoire zeigt. Das kann von Unterordnung auf Grundlage eines gewachsenen Vertrauens und einer freiwilligen Kooperationsbereitschaft bis zur eigenen Entscheidung des Pferdes gegen den Willen es Reiters reichen.

Je mehr angstfreie Situationen vertraut und gelernt sind und in eingeschliffene, reflexartige Verhaltensweisen übergehen, umso sicherer kann der Mensch mit dem Pferd umgehen.

 

Auch in Pferdeherden spielen persönliche Beziehungen eine wichtige Rolle.

Pferde schließen Freundschaften, lernen einander kennen, lernen die Stärken und Schwächen der Freunde kennen.

Vielleicht ist es vor diesem Hintergrund sogar eine Illusion, Pferde für andere Menschen ausbilden zu wollen. Was der Ausbilder einem Pferd beibringt, muss sich sein Besitzer erst selbst erarbeiten. Vertrauen wird auch über die beste Ausbildung nicht eingepflanzt. Sicher kann aber die Grundlage für vertrauensvoleln Umgang durch viele positive Erfahrungen mit Menschen gelegt werden.

 

Müssen wir Reiter nicht grundsätzlich über unsere Anspruchshaltung gegenüber dem Tier nachdenken?

Müssen wir nicht auf den seltenen Glücksfall hoffen, der alle intakten Beziehungen prägt: Gegenseitiges "Riechen-Können" und "Liebe auf den ersten Blick" mit einem großen Maß an Vorschussvertrauen, das uns auch durch kritische Situationen mit einem einzelnen, besonderen Pferd leitet?

 

Beziehungen zwischen Pferd und Mensch sind nicht grundsätzlich von anderer Qualität wie Beziehungen zwischen Menschen.

So wenig wir einen anderen Menschen bis ins Innere kennen, absolut sicher in seinen (Angst-) Reaktionen einschätzen oder gar "dominieren" können, ohne die Qualität der Beziehung und die Vielfalt individueller Möglichkeiten beider Partner zu zerstören, so wenig wird dies bei Mensch und Pferd möglich sein.