Warum


Warum wollen Pferde etwas?     (Steuerung des Verhaltens in konkreten Situationen)

Was motiviert sie speziell zur Zusammenarbeit mit dem Menschen?


Einen handfesten evolutionären Vorteil finden Pferde wahrscheinlich nicht in der Zusammenarbeit mit dem Menschen. Die Domestikation des Pferdes zielte ursprünglich nicht darauf ab, mit dem Pferd zu kommunizieren, sondern es zu essen. Ob Pferd und Mensch vorher freundlich miteinander umgingen, wird nicht entscheidend gewesen sein.
Welche Antriebe mögen Pferde dann dazu motiviert haben, sich auf die Beziehung zum Menschen einzulassen?

Widerlegt ist die These, Tiere handelten immer und ausschließlich im Sinne der Arterhaltung und opferten sich für andere auf. So rigoros und eindeutig, wie dies früher nach reiner darwinistischer Lehre der biologischen Fitness behauptet wurde, scheint es sich nicht zu verhalten. Ihre Art hätten Pferde durch die Beziehung zum Menschen auch nicht erhalten können, wurden sie doch anfangs in jedem Fall am Ende gegessen.
Andererseits scheint die ausgeprägte Angst jedes Individuum ohne Rücksicht auf Schäden bei anderen im Falle eines Angriffs auf sein Leben seine eigene Haut retten zu lassen.
Es opfert sich keineswegs, um seine Herde zu retten. Wird es aber zum Opfer, so bleibt die übrige Herde oft unbehelligt. Dies ist jedoch die Folge der Situation, nicht Absicht des Opfers.
In erster Linie sorgt ein Pferd für sein eigenes Überleben.
Es sucht Futter, Wasser, Schatten, einen Ruheplatz, den Schutz der Herde. Es verhält sich so, dass ihm selbst nichts passiert.
Eine Ausnahme scheint das Schutzverhalten der Mütter ihren Kindern gegenüber zu bilden. Eine Stute setzt alles daran, ihr Fohlen zu schützen, ohne auf ihre eigene Sicherheit zu achten. Auch in chancenlosen Situationen würde sie ihr Fohlen verteidigen.  Der Mechanismus zum Schutz des Individuums greift in dem Fall, wenn dem Pferd nur die Alternativen Unterwerfung bzw. Kooperation oder Tod bleiben. Die aktive Kommunikationsbereitschaft des Pferdes zum Menschen erklärt auch dieser Ansatz nicht.


Widerlegt ist als Erklärungsansatz für Verhalten auch die These, Tiere funktionierten nur nach genetisch vorgegebenen Reiz-Reaktions-Schemata. In den Anfängen der Verhaltensforschung glaubte man, ein Lebewesen könne auf bestimmte Situationen nur in angeborener Weise reagieren.
Bewiesen ist inzwischen, dass auf der Grundlage angeborenen Verhaltens ein sehr großes Potential an individuellen Verhaltensweisen entwickelt werden kann. Tiere - so auch Pferde - können sich in vielen Situationen zwischen Handlungsalternativen entscheiden.  Sie reagieren aktiv auf ihre Umgebung, lernen aus Erfahrungen und können einen eigenen Willen ausleben.

Sehr deutlich zeigen Esel, dass sie in der Lage sind, für sich selbst zu entscheiden. Sie neigen weniger stark zu Flucht und sind notfalls auch bereit, eine Situation „auszusitzen” oder zu kämpfen. In vielen Gefahrensituationen bleiben sie zunächst stehen. Sie denken nach. Sie bewerten die Situation. Dann entscheiden sie, was zu tun ist. Ein Esel lässt sich auch vom Menschen nicht überreden oder dominieren. Er bewertet selbst.
Wenn ein Esel vertraut, nimmt er gerne auch Vorschläge an. Gleiche Situationen können daher vollkommen  unterschiedliche, nicht durch den Reiz vorgegebene Reaktionen auslösen.
Seine Ziele erreicht das Pferd mit dem geringstmöglichen Energieaufwand bei größtmöglichem Nutzen. Sein wichtigstes Bestreben ist, Energie zu sparen bzw. die ihm zur Verfügung stehende Energie mit größtmöglichem Nutzen einzusetzen.
Willentlich geschieht dies sicherlich nicht im engeren Sinne, doch ist dem Pferd, besonders den nordischen Ponyrassen, der unwiderstehliche Drang zum „leichtesten Weg“ angeboren. Kann man Weg sparen, so tut man es, wenn der Reiter es nicht zu verhindern weiß; kann man essen, so tut man es, wenn einen keiner dran hindert; kann man Pause machen, so nimmt man die Gelegenheit in der Regel gerne wahr - Highland Pony Besitzer können ein Lied davon singen - Reitbeteiligungen an Highland Ponys vermutlich erst Recht.

Die Rangordnung regelt das Zusammenleben und ermöglicht dem Einzelnen, mit möglichst geringem Aufwand an Energie zu überleben. Kämpfe bergen Gefahren und werden daher vermieden oder durch ritualisierte Scheinkämpfe ersetzt.

Ein Pferd verhält sich auch dem Menschen gegenüber so, dass es seine Überlebensziele mit geringstem Energieaufwand erreichen kann.
Um eine derartige Beziehung zu regeln, braucht es eine Rangordnung. Einer sagt, was zu tun ist, und der andere folgt.
In letzter Konsequenz fordern einige Reiter im mechanistischen Sinne absoluten Gehorsam aufgrund absoluter Dominanz des Menschen über sein Pferd.
Als alleinige Grundlage einer funktionierenden Beziehung schöpft ein  solcher  allein auf Dominanz und Unterlegenheit begründeter Umgang aber bei weitem nicht die emotionalen und sozialen Möglichkeiten eines Pferdes (vielleicht auch nicht die des Menschen) aus.
Ein Pferd ordnet sich einem anderen Pferd oder dem Menschen entsprechend seiner Natur unter, weil es Energie sparen will. Sicherlich profitierte es daher in gewissem Umfang von der Alpha-Position des Menschen. Auf die Weise spart das Pferd unnötige Fluchten und den Stress der Verantwortung.

Dennoch basieren ganze Reitlehren allein auf der Theorie der absoluten Dominanz des Menschen über jedes Pferd in jeder Situation.
Viele Ausbilder haben damit bei vielen Pferden gute Erfolge, doch erschreckt die Rigorosität. Weder die Individualität noch die Entscheidungsfreiheit des Pferdes können zum Tragen kommen.
Sehr rigoros vertreten führt der Dominanzgedanke dahin, dass keinerlei „Aufmucken“ geduldet, jeder Ansatz abweichenden Verhaltens aus Angst um die Führungsposition sanktioniert wird. Oftmals geht die Demonstration von Macht und Überlegenheit unangemessen hart und zuweilen brutal vonstatten z.B. durch den Einsatz von Sporen oder durch Jagen bis zur Erschöpfung. Verstehen kann das Pferd diese Sprache nicht. Es wird kein Vertrauen fassen. Bestenfalls gehorcht es aus Angst, es resigniert oder schlimmstenfalls wehrt es sich gegen den Menschen. Ein solch ungleicher Machtkampf kann nicht konstruktiv enden.


Gehen Pferde die Kooperation mit dem Menschen oder die Unterordnung unter seine Regeln nur um ihr Überleben willen ein und sehen darin den „Weg des geringsten Wiederstandes“?
Das würde die einfache darwinistische Formel des Überlebens des Stärkeren bestätigen, dem die schwächere Art unterlegen ist und bestenfalls in deren Schutz und durch deren Altruismus überleben kann.
Damit wäre aber nicht erklärt, warum Pferde unter „freien” Bedingungen aus eigenem Antrieb die Nähe des Menschen suchen, auf seine Kommunikationsangebote eingehen oder sogar selbst die Kommunikation aufnehmen.

Wenn das Gehirn des Pferdes im Prinzip so funktioniert wie unser eigenes, so gelten vermutlich auch verschiedene Ergebnisse der neurobiologischen Forschung an Mensch und Tier auch für Pferde.
In dem Falle wird auch beim Pferd eine positive soziale Beziehung ein positives endogenes Belohnungssystem im Gehirn auslösen. Positive soziale Beziehungen, die positive Gefühle und Kooperation auf den Plan rufen,  sind die Voraussetzung für Motivation und Lernbereitschaft. Kooperation als Grundlage für Lernbereitschaft ist also Grundlage, sich durch Lernen einer sich wandelnden Umwelt anzupassen und damit Grundlage für das Überleben des Individuums.
Die Tatsache, dass Tiere lernen können, scheint der entscheidende Hinweis, dass sie einen eignen Willen und eigene Entscheidungsmöglichkeiten haben.
Wir können diese Möglichkeiten in der Arbeit mit Pferden nutzen, ohne sie absolut zu dominieren. Auch in einer Herde gibt es nicht die absolute Dominanz. Persönliche Eigenheiten haben in jeder Herde ihren Raum.
So kann es auch in der Beziehung zwischen Mensch und Pferd sein. Der Mensch übernimmt zwar die Position des Alpha-Tieres, hat es aber nicht nötig, diese mit Gewalt durchzusetzen. Der Mensch kann das Verhalten seines Pferdes lesen, steuern und nutzen, um in eine echte Kommunikation einzutreten.


Individuell spielt das selbstbelohnende System im Gehirn, das Lernen forciert, eine wichtige Rolle. Ein Pferd wird (wie der Mensch auch) durch Erfolge stimuliert und erlebt Glücksmomente - in welcher Form auch immer es diese empfinden mag.
Das endogene Belohnungs-System  ist beim Menschen kaum erforscht, beim Pferd nur vermutet, an der Maus jedoch bewiesen.
Wenn Pferde die klare soziale Ordnung auch in der Beziehung zu uns Menschen  schätzen, dann liegt darin die Verpflichtung für uns, ihnen diesen Rahmen zu bieten. Dann erst werden sie sich so wohl fühlen, dass sie kooperieren und mit uns  sein wollen, sich in unserer Gegenwart wohl fühlen.
Pferde sind soziale Wesen, die darauf angewiesen sind, sich in einem Herdenverband einzuordnen. Sie sind es gewohnt, die Äußerungen anderer Lebewesen zu beachten, zu verstehen und zu respektieren.

Beobachtungen in Pferdeherden haben gezeigt, dass Pferde einem ruhigen, bedächtigen, erfahrenen Leittier eher vertrauen als dem typischen „Boss”, der immer wieder mit Aggression seine Stellung sichert, selbst aber wenig Sicherheit ausstrahlt.
In großen Herden entscheidet vielleicht die Macht der Masse - einer flieht und alle rennen hinterher; in kleinen Gruppen hingegen scheint es ein breiteres Verhaltensrepertoire zu geben.
In sicherer Umgebung zeigen Hauspferde ein verändertes Verhalten. In geschützter Umgebung kann ein Pferd auch einmal für sich selbst entscheiden, ob es flieht oder wie der Herdenchef stehen bleibt - oder dass es stehenbleibt, obwohl der Herdenchef flieht.
Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass ein Pferd auch in Zusammenarbeit mit dem Menschen in der letzten Konsequenz für sich selbst - und für seine Sicherheit - entscheiden wird. Es kann lernen, dem Menschen zu folgen oder anders zu entscheiden.
Nur das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit sowie erlerntes Verhalten können unkontrolliertes Fluchtverhalten überlagern und den Umgang mit dem Pferd sicherer machen.

Viele Pferde vertrauen in Gefahrensituationen ihrem Reiter - oder auch dem Urteil eines vertrauten Hundes oder Esels - manchmal mehr als ihrem Herdenchef.
Angstsituationen beim Reiten oder im Stall können auf diese Weise unter Kontrolle gehalten werden. Selbst neue, beängstigende Situationen, die normalerweise Panik auszulösen in der Lage wären (laute Geräusche, flatternde Gegenstände) werden durch die Anwesenheit einer Vertrauensperson entschärft.

Wenn Pferde also die Sicherheit in einer Herde suchen und hier einen Führer bevorzugen, der mit viel Ruhe und ohne Gewalteinwirkung leitet, dann werden sie dieses Schema auch im führenden Menschen wiedererkennen. Sie werden eher dem bedachten, ruhigen, ausgeglichenen Menschen zu folgen bereit sein als dem ängstlichen, hektischen, unentschlossenen.

Eine für das Pferd positiv besetzte Person muss nicht einmal unmittelbar anwesend sein,  um positive Gefühle hervorzurufen. Schon die bekannten, beruhigende Stimme reicht aus, um eine Situation zu kontrollieren  und Vertrauen zu schaffen. Die Stimme lenkt die Aufmerksamkeit des Tieres vom Angstauslöser und unterbricht die Kaskade der Eskalation in die Panik.