Überleben durch Verhalten


Vor 500 Jahren, als die ersten Europäer hoch zu Ross den amerikanischen Ureinwohnern begegneten, müssen diese an Zauberei gedacht haben.
Wie kann es sein, dass ein solch großes, starkes Tier einem so kleinen, schwachen Wesen wie dem Menschen gehorchen?
Die Indianer fanden das Geheimnis schnell heraus und wussten es bald für ihre eigenen Zwecke zu nutzen: Pferde kann man gefügig machen, indem man sie unterwirft.
Nicht eben so edel wie in der Sage waren die indianischen Stämme in Wirklichkeit in ihrer Beziehung zu den Pferden. Sie übernahmen nicht nur die Reittiere von ihren Eroberern, sondern auch deren Methoden, sich die Tiere nutzbar zu machen.

Auch heute noch stellen sich dem aufmerksamen Beobachter beim Anblick eines mehr oder weniger harmonisch agierenden Pferd-Reiter-Paares viele Fragen:
Warum lassen Pferde sich reiten?
Weshalb arbeiten diese Tiere für den Menschen?
Machen sie es freiwillig?
Was wollen die Pferde selbst?
Haben sie Spaß bei dem, was der Mensch mit ihnen tut?


Viele Jahrtausende lang wurden junge Pferde mit Gewalt unterworfen, ihre Arbeitskraft genutzt und am Ende wurden sie aussortiert.
Der Überlebenskampf des Menschen auf dem Feld, auf Reisen oder im Krieg ließ keinen Raum für Gefühle.  Pferde mussten funktionieren, gleich was von ihnen verlangt wurde. Man konnte sich nicht den Luxus leisten, nach den Gefühlen des Tieres zu fragen oder nach seiner Seele. Pferde wurden so gut gepflegt und behandelt, wie sie Leistung erbringen konnten. Wohl eher selten überlebten sie die Zeit ihres aktiven Arbeitslebens.
Anders waren die Verhältnisse nur bei Kleinbauern, die es sich nicht leisten konnten, ihre Tiere zu verschleißen, die Jahre oder Jahrzehnte eng mit einem Pferd zusammen arbeiteten und auch immer für dessen Wohlergehen sorgten. Sicherlich entstanden hier engere Bindungen zwischen Mensch und Tier.
Erst mit der Freizeitreiterei kann sich der Mensch leisten, nach dem inneren Befinden seines Pferdes zu fragen. Das müssen Reiter erst lernen, nachdem es Jahrtausende anders üblich war.
Auch wenn selten Rücksicht darauf genommen werden konnte und sie es über Jahrhunderte auch nicht zeigen konnten, verfügen Pferde doch über ein enormes emotionales Potential.

Auch die Wissenschaft hat im Grunde mehr Fragen als Antworten zu Themen rund um  soziale Beziehungen, Interaktion, Gehirn, Motivation und Lernen.
Verhalten dient in jedem Fall dem Überleben der Tiere. Durch erlerntes Verhalten passt es sich an immer wieder neue Anforderungen der Umgebung an.
Ob es bei der Verhaltens-Anpassung immer nur um das Überleben der Art geht, ist ein grundsätzlicher Streitpunkt in der Wissenschaft. Wie weit Tiere (und Menschen) sich individuell und autonom entscheiden, ob sie sich aufgrund ihrer Natur immer im Sinne der Arterhaltung oder durch ihre Lernfähigkeit auch in egoistischem Sinne entscheiden können, ist nicht endgültig geklärt.
Immer mehr wächst die Erkenntnis, dass Tiere sich genauso (wenig) individuell entscheiden wie wir Menschen, dass sie genauso wie wir eine individuelle Persönlichkeit entwickeln. Durch welche Einflüsse individuelle Unterschiede letztendlich bestimmt werden, ist nicht endgültig geklärt. Wie weit der Einfluss der Gene, wie weit die Umgebung das Verhalten bestimmen, war und ist die Frage weiterer Forschung - oder der Überzeugung des Beobachters.
Einige Verhaltensweisen bei Hausstieren scheinen dem Überleben der Art fast konträr gegenüber zu stehen. Die Verhaltensweisen können vor dem Hintergrund einer natürlichen Umgebung so ungewöhnlich  sein, dass man einen Sinn für die Arterhaltung nicht mehr erkennen kann.

Wenn ein Pferd  sich freiwillig und selbstständig Zirkuskunststücke ausdenkt, um Kontakt zu seinem Menschen aufzunehmen, sich dabei auch von seinen Artgenossen absetzt, lässt nur schwer eine Interpretation  im Sinne der Arterhaltung zu. Gleiches kann wohl für die Tatsache behauptet werden, dass Pferde von sich aus und ohne Not Kontakt zu artfremden Tieren - zum Teil sogar zu ihren natürlichen Fressfeinden - aufnehmen und Freundschaften schließen. Solches Verhalten basiert sicherlich auf angeborenen Instinkten, die in natürlicher Umgebung das Überleben sichern, hat aber in seiner konkreten Anwendung diese Funktion nicht mehr. Man kann sogar den Eindruck gewinnen, dem einen oder anderen Pferd ginge es einzig und allein darum, Spaß zu haben. Diesen Luxus kann es sich nur als bestens versorgtes und rund um die Uhr beschütztes Haustier leisten.


Viele Pferdebesitzer leben mit ihren Tieren, nehmen an ihrem Tageablauf teil, richten ihr Leben nach den Tieren aus.
Die Pferde leben mit uns, sie nehmen an unserem Leben teil, sie lernen die vielen komischen Dingen kennen und akzeptieren, die Menschen tun.
Die Zuneigung, Freude und Freundschaft der Tiere ist uns in den meisten Fällen sicher und scheint uns selbstverständlich.
Aber es ist keine konstante, festgeschriebene Beziehung.
Jedes Tier ist anders, geht andere Beziehungen ein, besitzt eine eigene Persönlichkeit. Für viele Menschen, die mit Tieren leben, besteht daran kein Zweifel.

Was die Wissenschaft dazu sagt und wie sie es erklärt, ist am Ende vermutlich nicht entscheidend für die einzigartige Beziehung, die ein Mensch zu einem Tier aufbauen kann.