Anpassungskünstler


Pferde haben wie die meisten Säugetiere ein hoch entwickeltes Gehirn.
Das Gehirn steuert Futter- und Wasseraufnahme, die Paarung, die Sorge für ein Fohlen, die Verständigung mit anderen Pferden z.B. im Rangordnungskampf, die Flucht bei Gefahr.

Viele Verhaltensmuster sind angeboren und werden durch bestimmte Innen- oder Außenreize ausgelöst. Sie laufen nach festem Schema ab.
Man unterscheidet automatisch ablaufende Reflexe (Lidschlussreflex, Scheuen),  endogen gesteuerte, manchmal exogen beeinflusste Triebe mit Appetenzverhalten (Suchverhalten) wie Fortpflanzungstrieb und Fresstrieb oder angeborene komplexe Verhaltensreaktionen, die nur in besonderen Situationen auftreten, aber kein Appetenzverhalten aufweisen (Fluchtverhalten, Vermeidungsverhalten).

Als soziale Fluchttiere müssen Pferde sich aber auch immer wieder auf vollkommen neue Situationen einstellen können. Ein Pferd, dass immer nach dem gleichen angeborenen Schema handelt, wird nicht lange überleben. Das gilt für die Wildnis, noch mehr aber für das Leben mit dem Menschen. Ohne die große Anpassungsfähigkeit wären Pferde für den Menschen nie das geworden, was sie wurden. Pferde sind sehr lernfähig.
Mit ihrem hoch entwickelten Gehirn kombinieren Pferde Elemente unterschiedlichster natürlicher Verhaltensweisen zu ganz neuem Verhalten. Diese Fähigkeit machen wir Reiter uns zunutze.

Neugier ist die Voraussetzung, sich mit neuen Dingen und Situationen auseinander zu setzen.
Ihre große, angeborene Neugier erleichtert den Pferden, auf neue Situationen zuzugehen. Gerade Ponys stecken ihre Nase gerne in alles, was sie finden können. Dabei bringen sie sich manchmal sogar selbst in Gefahr. Sie untersuchen mit Lippen und Zähnen alles, was sie erreichen können. Zufällige Entdeckungen merken sie sich sehr gut und wissen sie anschließend zu nutzen.

Wenn ein Pony einmal an deiner Tasche gezupft und dabei ein Leckerli hervorgezaubert hat, wird es das für alle Zeiten wissen und bei jeder Gelegenheit beweisen, dass es ein gutes Gedächtnis hat. Es merkt sich auch, wenn es einmal seine Stalltür oder das Tor zur Nachbarwiese geöffnet hat. Genauso schnell lernen Pferde durch Ausprobieren, wie man mit einem Heunetz oder einer neuen Raufe umgeht.

Pferde haben eine genaue Vorstellung von ihrer Umwelt. Veränderungen fallen ihnen sofort auf. Vor allem in der gewohnten Umgebung merken sie gleich, wenn etwas verändert wurde. Je nach Charakter und Mut gehen sie gleich darauf zu, um es zu untersuchen oder bleiben auf Abstand stehen, schnorcheln ängstlich und beobachten zunächst aus der Entfernung. In der Herde lassen Pferde oft das mutigste oder neugierigste Tier vorgehen und klären, was es mit der Veränderung auf sich hat. Erst dann trauen sich die anderen.
Auch Pferde wundern sich. Sie haben eine feste und logische Vorstellung im Kopf, was wie sein muss. Manche begrüßen jeden Anhänger wiehernd in der Erwartung, ein Pferd aussteigen zu sehen, andere wundern sich, wenn plötzlich an einer bestimmten Stelle ein anderes Pferd, ein anderer Hund, ein anderer Mensch als gewöhnlich auftaucht oder ein anderer Gegenstand liegt als sie erwartet haben.

Ein  Pferd lernt besonders schnell, was gefährlich oder ungefährlich ist.
Es kann aber auch selbständig Neues lernen.  Einige lernen, die Stalltür zu öffnen und dahin zu gehen, wo es ihnen besser gefällt, andere wälzen sich unter Zäunen durch.
Gute Erfahrungen verbinden Pferde schnell mit bestimmten Situationen. Ein Schreckensobjekt, auf dem doch tatsächlich ein Leckerli liegt, wird positiv wiedererkannt. Wer sich traut, bekommt etwas zu fressen. Das wird sich jedes Pony merken. Es wird demnächst z.B. jede Mülltonne besuchen.
Auch „Fremdsprachen” sind für Pferde kein Problem. Sie ordnen die Lautäußerungen oder Signale anderer Lebewesen nach kurzer Gewöhnungszeit sehr sicher ein. Das gilt für Hunde, Schafe, Ziegen und vor allem Esel als Stallgenossen. Zwischen Pferd und Esel entsteht ein ausgeprägtes Sozialverhalten.

Die Lernfähigkeit des Pferdes kann der Reiter ausnutzen, wenn er seinem Pony Zeit und Gelegenheit gibst, immer Neues zu lernen. Es ist sehr neugierig und beschäftigt sich gerne mit anderen Lebewesen. Zunächst wird es vielleicht nicht mögen, dass der Hund an seinen Bauch springt. Es wird aber schnell verstehen, dass der Hund nicht gefährlich ist und es für die Übung ein Leckerli gibt.
Pferde stellen sich nahe zueinander, wenn sie sich mögen oder eins krank ist. Der Hund zeigt Zuneigung anders. Er leckt die Nüstern des Pferdes. Das Pony kann lernen, dieses Zeichen zu verstehen. An seiner Reaktion ist abzulesen, dass es sich dadurch genauso beruhigt, wie durch einen Pferdekumpel.


  
Wie lernen Pferde?

Positive Erfahrungen wirken belohnend. Wenn Tiere bei einem Verhalten ein gutes Erlebnis haben, werden sie es wiederholen. Auf ein bestimmtes Signal folgt eine bestimmte Erwartung oder Handlung.

Damit der Reiter leichter aufsteigen kann, bringen viele Reiter ihrem Pferd bei, neben einem Stuhl oder einem Holzblock zu stehen. Bald stellt es sich von alleine neben einen Stuhl. Es erwartet, dass ein Mensch aufsteigen und es belohnen wird. Der Stuhl ist dann zum Signal geworden. Diese Aufforderung braucht das Pferd nicht mehr, um zu wissen, was es tun soll.
    Ein gerittenes Pferd geht auf ein gelerntes Signal (Schenkel, Schnalzen) vorwärts, weil es dafür mehrfach belohnt wurde.

Mit Belohnung kann man einem Pferd sehr viel beibringen. Dazu braucht man nicht unbedingt Futter. Man kann ein Pony auch mit Stimmsignalen, einer kleinen Pause oder einem Streicheln am Hals belohnen.
Mit einem Stückchen Möhre oder einem Leckerli erreicht man allerdings gleich mehrere Ziele: Einerseits freut das Pferd sich über die Belohnung und wird positiv gestimmt. Es versteht, dass es etwas richtig gemacht hat. Außerdem wirkt Kauen beruhigend und entspannend. Ein Pferd wird bei Angst nicht fressen. Kaut es aber, so vermittelt das eine ruhige, entspannte Stimmung.
Man muss sehr gezielt belohnen. Sobald das Pony etwas richtig gemacht hat, sollte es seine Belohnung bekommen. Die kann schon darin bestehen, dass der treibende Schenkel weg ist, sobald das Pony die gewünschte Geschwindigkeit erreicht hat. Man kann ihm auch ein belohnendes Stimmsignal beibringen. Das ist nützlich, wenn man die Hände nicht frei hat. Ein Stimmsignal ist schneller und vielseitiger einzusetzen als eine fressbare Belohnung. In vollem Galopp kann das Pony kein Leckerli bekommen. Würde man das Pony erst anhalten und dann belohnen, so interpretiert es die Belohnung als Folge des Anhaltens. Mit der Stimme sagt man ihm genau und sofort, was es richtig gemacht hat.
   
Ein Stimmsignal wird in verschiedenen Reitweisen gelehrt. Das kann ein beruhigendes Wort oder auch ein Ton durch einen „Klicker” sein. Zunächst lernt das Pony das Signalwort in Verbindung mit einer Belohnung.  Später wird es auch auf das Signal alleine reagieren. Dann gibt man  die Belohnung nur noch, wenn es etwas besonders gut gemacht hat. In einer gefährlichen Situation kann man allein mit der Stimme einwirken, bis die Gefahr vorüber ist. Wenn ein Pferd plötzlich ängstlich reagiert, kann das Beruhigungssignal z.B. die Zeit zum Absteigen überbrücken. Man kann sicher absitzen und die Situation zu Fuß lösen und nach Erfolg belohnen.


Negative Erfahrungen wirken abschreckend. Wenn das Tier bei einem Erlebnis eine schlechte Erfahrung hatte, wird es den Ort oder die Situation meiden.
Wenn es einmal eine schlechte Erfahrung hatte, entsteht ein Widerwillen. Viele Pferde scheuen an einem Ort, an dem sie sich einmal erschreckt haben.
Hat ein Pferd immer wieder schlechte Erfahrungen gemacht, wird es vermeiden, wieder in eine solche Situation zu geraten. Manche Pferde wollen nicht mehr gesattelt werden, weil der Sattel Schmerzen verursacht hat.

Wenn ein Pony kneift oder beißt, darfst man ihm im Reflex durchaus einen Klaps auf die Nase geben. Das würde ein anderes Pferd auch machen. Ein rangniedrigere Pferd muss mit Konsequenzen rechnen, wenn es ein ranghöheres Tier zu beißen wart.
Wenn ein Pferd aber etwas nicht kann oder nicht verstanden hat, sollte man selbstverständlich niemals strafen. Strafe macht Angst und Angst verhindert lernen. Die richtige Alternative können Pferde sich nicht vorstellen.
Strafe oder schlechte Erfahrungen bewirken, dass Pferde weglaufen, z.B. wenn sie den Sattel sehen. Vor allem darf nie bestraft werden, wenn es dann irgendwann doch kommt. In einer solchen Situation sollte man das Pferd für sein Kommen belohnen, es kurz streicheln oder putzen und dann wieder auf die Wiese schicken. Schnell wird es  lernen, dass der Mensch keine Gefahr bedeutet und sich schnelles Herkommen auszahlt.

Pferde haben einen starken Spieltrieb und lernen durch Versuch und Irrtum. Manche Pferde probieren immer wieder aus, wie sie ein Problem lösen können. Irgendwann finden sie einen Weg. Wenn sie sich diesen Weg merken, werden sie ihn immer wieder anwenden.

Ein neuer Gegenstand wie z.B. ein neues Heunetz im Stall, erschreckt viele Pferde zunächst. Da sie aber unbedingt an den Inhalt heran kommen wollen - denn der riecht schließlich verlockend - probieren sie verschiedene Techniken aus. Manche klemmen sich das Netz zwischen die Vorderbeine und fressen es einfach leer, andere packen es mit den Zähnen oder pressen es an die Wand, damit es nicht immer wieder wegrutscht.
   
Auch Lernen durch Zufall oder spontane Ideen kann man bei Pferden beobachten. Ein  Pferd scheint plötzlich eine neue Idee zu haben und setzt sie sofort und sehr gezielt in die Tat um. Esel zeigen vorher oftmals ein Verhalten, das uns an „Nachdenken” erinnert. Sie stehen da, schätzen die Situation ein und finden dann sehr gezielt eine Lösung.

Ein Pony sieht beim Reiten ein Stück Möhre auf dem Boden liegen. Es versucht ein, zwei Mal, die Möhre mit den Zähnen zu erreichen. Dummerweise hält der Reiter die Zügel fest. Also lässt das Pony sich kurzerhand vorne fallen und „kniet“ sich hin. So kann es die Möhre bequem fressen, bevor der Reiter überhaupt begriffen hat, was vor sich geht. Das Pony hat seine eigene Lösung für das Problem gefunden - und wird sie auch wieder probieren.

Motorisches Lernen ist die Grundlage, neue Bewegungen oder Übungen richtig auszuführen.
Ein Pony soll zum ersten Mal einen Reiter tragen. Kaum ist er oben, schwankt es hin und her, steht breitbeinig da und traut sich keinen Schritt zu gehen. Es muss erst lernen, das zusätzliche Gewicht auf seinem Rücken sicher auszubalancieren. Einfluss auf die Bewegungen hat die Händigkeit der Tiere. Wie bei uns Menschen gibt es „Rechtshänder” und „Linkshänder”, sind die Tiere in der einen oder anderen Richtung vor allen in schnellen Gangarten sicherer.

Lernen durch Beobachtung und Nachahmung findet statt, wenn ein anderes Tier oder ein Mensch etwas vormacht. In der Herde verhalten sich die Tiere genauso. Das mutigste und besonnenste Tier klärt die Lage, die anderen vertrauen und folgen ihm.

Wenn ein Pony irgendwo nicht weiter gehen möchte und Angst hat, geht der Reiter  vor oder schickt einen anderen Reiter mit seinem Pferd vor. Das ängstliche Pony wird beobachten, dass nichts geschieht. Dann wird es hinterher gehen.
Ein neues Pferd in der Herde beobachtet, wie die anderen zu einem bestimmten Zeitpunkt in den Stall gehen. Es sieht, wie die anderen Möhren bekommen. Also läuft es am nächsten Tag mit und bekommt auch Möhren.

Lernen durch Einsicht und Übertragung
Für diese hochentwickelte Form des Lernens muss er Pferd alte Erfahrungen oder Lerninhalte auf neue Situationen anwenden können. Viele Pferde kennen Situationen, die ihnen besonders angenehm waren. Und haben Strategien entwickelt, diese Situation herzustellen. Bei anderen Gelegenheiten können sie ihre Erfahrungen spontan neu zusammensetzen. Ein Beispiel ist das „Umwegdenken”. Ein Pferd hat viele Male einen Zaun umrundet, ist durch ein Tor gegangen, wenn der Mensch den Weg geöffnet hat.
Bei einer anderen Gelegenheit wurden vielleicht nur die unteren Bänder eines Tores geöffnet. Das Pferd möchte aber unbedingt auf die Wiese. Also duckt es sich, macht sich kleiner und schlüpft ohne den Stromzaun zu berühren auf die Wiese. Eigentlich kein pferdetypisches Verhalten.

Ein Pony hat gelernt, sich nach dem Reiten zu wälzen und sich dann hinzusetzen. Dafür hat es eine Belohnung bekommen. Irgendwann sieht es seinen Menschen auf dem leeren Reitplatz stehen. Es geht hin, schaut ihn an, denkt nach, wälzt sich schließlich neben ihm und setzt sich hin. Es erwartet, dafür ein Leckerli zu bekommen und hat ein neues Kunststück erfunden. Viele Pferde „erfinden” auf solche Weise eigene Zirkus-Kunststücke.
Manche Ponys lernen auch, auf bestimmte Weise die Aufmerksamkeit ihres Reiters auf sich zu ziehen. Sie lahmen oder husten urplötzlich, wenn sie arbeiten sollen. Geht der Reiter wieder, ist die Krankheit so schnell verschwunden wie sie kam.

Die Intelligenz eines Pferdes ist zwar nicht direkt mit der eines Menschen vergleichbar, dennoch sollte man nie unterschätzen, wie intelligent Pferde auf ihre Umwelt reagieren können. Erfolgreiches Lernen wird im Gehirn durch Hormonausschüttung belohnt. Das Pferd fühlt sich wohl und lernt, dass Neugier und Lernen angenehm ist. Viele Pferde finden Spaß daran, immer neue Dinge zu erkunden und auszuprobieren.
In die richtige Richtung gesteuert lernen Pferde viele Dinge, die im Alltag sehr nützlich sind oder einfach auch nur Spaß machen.
So mancher Reiter hat sich jedoch von seinem sehr lernfähigen Pferd schamlos austricksen lassen, ohne es zu merken. Vor allem die sehr verspielten und neugierigen Ponyrassen merken sehr schnell, wie sie eine Situation für sich nutzen können.