Fluchttiere
Durch die Wirbelsäule verlaufen wichtigste Nervenbahnen von allen Körperteilen zum Gehirn. Es gibt im Rückenmark Zellen, die sehr schnell auf äußere Einflüsse reagieren können, viel schneller als
eine Verbindung zum Gehirn möglich wäre. Durch diese Zellen werden Reflexe ausgelöst. Das sind die Sofort-Reaktionen bei Schreck oder Gefahr. Auslöser und Reflex finden innerhalb kürzester Zeit
statt. Das rettet dem Tier in vielen Fällen das Leben. Für den Reiter sind diese schnellen Reflexe kaum voraussehbar.
Springt plötzlich etwas aus einem Gebüsch, hüpft ein Pony unwillkürlich zur Seite. Erst dann schaut es genau hin und entscheidet, ob sich die Aufregung lohnt. Die erste Reaktion entsteht als Reflex
im Rückenmark. Sie geschieht automatisch und so schnell, dass sie bei Gefahr Leben retten kann.
Einen plötzlichen Sprung zur Seite gleichen die Reflexe des Reiters mit dem Klammerreflex aus. Das Ziehen an Zügeln und Festklammern mit Händen und Beinen ist zwar biologisch sinnvoll für den
Menschen, erschreckt ein Pferd aber in Gefahrensituationen zusätzlich und leitet oft eine wilde Flucht ein. Seine eigenen Reflexe zu entschärfen - durch Übung, Weglassen potentiell schmerzhafter
Hilfsmittel) liegt in der Verantwortung des Reiters.
Die langsameren sensorischen und motorischen Nervenbahnen reagieren in einer komplizierten Reaktionskette vom Sinnesorgan zu den sensorische Nervenbahnen, vor dort zum Gehirn und wieder zurück
zu den motorischen Nervenbahnen, die den Bewegungsapparat ansteuern und Reaktionen auslösen. Reaktionen, die vom Gehirn gesteuert werden, sind meist voraussehbar, oft sogar vor ihrer Ausführung noch
zu beeinflussen.
Raschelt etwas im Gebüsch, schaut ein erfahrenes Pony zunächst hin, wird aufmerksam, spannt vielleicht die Muskeln an, macht sich fluchtbereit. Erst wenn die Situation ihm zu brenzlig wird, startet
es seine Flucht aus der Gefahrenzone. Der Reiter kann in solchen Fällen noch auf sein Pferd einwirken und eine Fluchtreaktion in vielen Fällen verhindern oder in andere Bahnen lenken. Pferde lernen,
die z.B. Stimme des Reiters als Entwarnung zu verstehen und die vermeintliche Gefahr als harmlos einzuschätzen. Die Reaktionskette wird unterbrochen, eine für Pferd und Reiter gefährliche Reaktion
vermieden.
Des Reiters eigene Regulationsmechanismen können auf die Situation reagieren und z.B. einen Schrecksprung ausbalancieren. Der Reiter kann seinen eigenen Klammerreflex überwinden, durch eine
andere Reaktion ersetzen (z.B. beruhigend mit ihm sprechen, tief in den Sattel setzen und am Sattelhorn festhalten) und so für das Pferd verständlicher handeln.
Tiere haben drei Möglichkeiten, auf Gefahr zu reagieren: Kämpfen, Fliehen oder Erstarren. (Englisch: „fight, flight or freeze“)
Im Alltag ist das Gefahrenverhalten in feste Verhaltensmuster eingebunden.
Jedes Tier reagiert zwar auf unterschiedlich starke Reize unterschiedlich stark und manchmal auch sehr individuell, aber die arteigenen Grundmuster bleiben.
Pferde neigen grundsätzlich in Gefahrensituationen zu Fluchtverhalten. Das sicherte ihnen in der Steppe das Überleben. Dennoch können z.B. Stuten durchaus um ihr Fohlen kämpfen oder Pferde aus Angst
erstarren. In die Enge getrieben treten Pferde notfalls auch nach Hunden oder Menschen. In Unfallsituationen erstarren viele Pferde, geben auf und sind nicht mehr in der Lage, sich selbst zu
befreien.
Raubwild reagiert in Gefahrensituationen eher mit Kampfverhalten. Man kann das bei Hunden und Katzen beobachten. Auch hier gibt es natürlich individuelle Abstufungen. Es gibt
aggressiv-draufgängerische wie auch sehr ängstliche und zurückhaltende Hunde.
Esel reagieren eher mit Erstarren. Als Tier steiniger und bergiger Wüsten hätten Esel keine Überlebenschance, wenn sie vor jeder Gefahr davon stürmen und Verletzungen riskieren würden. Das „bedachte”
Verhalten, das Abschätzen der Situation und eine Selbstverteidigung bedeutet für Esel - durch aus wehrhaft mit Hufen und Zähen - oft das geringere Risiko. Der „sture” Esel denkt eigentlich artgemäß
über seine Situation nach, um sich dann für Flucht, Kampf oder Ignorieren zu entscheiden. Dieses Verhaltensmuster passt sicherlich besser in den modernen Straßenverkehr als das Verhalten eines
Pferdes.
Angst kann sich zur Panik steigern, wenn sie das Tier überfordert. Jede Paniksituation wiederum führt zu einem körperlichen Alarmzustand. Im Körper werden Stoffe freigesetzt, die extreme Leistungen
möglich machen. Das Hormon Adrenalin sorgt dafür, dass Tier oder Mensch das eigene Leben retten kann, wenn direkte Lebensgefahr besteht. Adrenalin regt den Kreislauf an, macht das Tier wach,
aufmerksam und empfindsam. Gleichzeitig wird die Aktivität in weniger überlebenswichtigen Organen abgesenkt. Alle Kräfte werden für Flucht oder Kampf zur Verfügung gestellt. Von Instinkten geleitete
Systeme im Gehirn übernehmen das Kommando.
Es werden Reaktionsketten in Gang gesetzt, die nur in Gefahrensituationen zum Tragen kommen.
Früher sprach man in diesem Zusammenhang von „Fluchttrieb”. (Der Definition des „Triebes” hält die Fluchtreaktion jedoch bei genauem Hinsehen nicht stand, denn es ist kein Appetenzverhalten
vorhanden. Kein Tier würde nach einer Gefahrensituation suchen, um seinen Flucht”trieb” auszuleben. Flucht bewirkt zwar einen angeregten Zustand des Körpers, aber keine Ausschüttung von Hormonen, die
dem Tier ein angenehmes Gefühl vermitteln. Es wird eine Wiederholung nie selbstständig herbeiführen, wie es bei den Funktionskreisen Nahrungsaufnahme oder Sozialverhalten biologisch sinnvoll
ist.)
Bei Panik hört und sieht ein Tier nichts mehr, ist nicht mehr in der Lage nachzudenken oder etwas zu lernen. Es bleibt keine Zeit zum Nachdenken oder Zögern. Das Tier reagiert nur noch nach bewährtem
Schema.
Beim Pferd endet Panik in wilder Flucht ohne Rücksicht auf Verluste. Das hat ihnen über Jahrtausende in den meisten Fällen das Leben gerettet. Flucht ist als Reaktionsschema für den Notfall fest
verankert. Im Kampf gegen die Krallen und Zähne ihrer Feinde hätten Pferde wenig Chancen. Einmal in Panik geraten, hält ein Pferd nichts mehr. Bei Panik läuft ein festes Verhaltensschema ab, das
nicht mehr bewusst beeinflusst werden kann. Ein in Panik durchgehendes Pferd ist nicht zu stoppen. Es nimmt nicht einmal mehr Schmerz wahr, sieht nicht wo es hin rennt und kann nicht mehr beeinflusst
werden.
Das Fluchtverhalten der Pferde haben sich die Steinzeitjäger vor vielen Tausend Jahren zunutze gemacht. Sie setzen die Steppe in Brand, hetzten die Tiere mit Geschrei, später mit Hunden. Pferdeherden
stürzten auf der Flucht kopflos über Abhänge. Für die Jäger war das eine relativ gefahrlose Jagdtechnik.
Pferde sind für ihre Flucht vor Raubwild auf eine leistungsfähige Lunge angewiesen.
Stallluft schädigt durch Ammoniak und Schimmelsporen die Lunge. Viele Stallpferde husten chronisch. Sie wären bei echter Gefahr nicht fluchtfähig.
Bei der Flucht stellt der Organismus alle nicht benötigten Funktionen ab. Lunge und Muskeln werden stärker mit Blut versorgt. Nur Atmen und Rennen sind dann überlebenswichtig. Der Kehlkopfdeckel
verschließt die Luftröhre und verhindert, dass das Pferd sich beim Atmen „verschluckt“. Wenn Pferde atmen, können sie nicht schlucken. Wenn sie schlucken, können sie nicht atmen. Das ermöglicht ihnen
schnelle Flucht.
Eine Trense im Maul aber regt die Speichelproduktion wie beim Fressen an. Das Tier muss ständig schlucken, kann dann nicht atmen. Gleichzeitig soll es aber arbeiten und muss dafür atmen können.
Das Gebiss regt wie Futter auch die Produktion von Magensäure an. Es kommt aber keine Nahrung. Die Magensäure reizt also die Magenwände.
Manche Freizeit- und Sportpferde schäumen geradezu vor nicht verschlucktem Speichel, wenn sie geritten werden. Viele Reiter finden, dass sich die Kiefermuskulatur durch das Kauen auf dem Gebiss
entspannt und das Pferd dadurch ruhiger wird.
Auch Pferde, die ohne Gebiss geritten werden, kauen manchmal. Dabei bildet sich aber nur ganz wenig Schaum auf den Lippen und sie scheinen dabei wirklich sehr entspannt zu sein. Kauen kann jedoch
auch Nervosität ausdrücken.
Wissenschaftler meinen heute, dass das Reiten mit Trense dem Pferd vermutlich eher schadet. Einerseits verursacht es bei falschem Einsatz oder auch versehentlich mechanische Verletzungen im
Maul. Andererseits führt es durch die Speichelbildung zu Schäden im Atmungs- und Verdauungssystem und mindert die Leistungsfähigkeit, weil die Atmung behindert wird.
Auf einen Kampf lassen Pferde sich selten ein. Wenn ihr Fohlen geschützt werden muss, ist eine Stute jedoch ein gefährlicher Gegner und durchaus kampfbereit. Sie nimmt es mit Wölfen oder anderen
Raubtieren auf und kämpft bis zur Erschöpfung.
Die Aufmerksamkeit für die Umwelt ist ein Schutz vor bösen Überraschungen. Pferde haben starke Reflexe. Nehmen sie etwas Ungewöhnliches wahr, reagieren sie reflexartig. Sie scheuen, springen
plötzlich zur Seite, machen einen Sprung nach vorne. Das können sie nicht steuern. Man kann das auch kaum verhindern. Nach der Aufmerksamkeit und einer Sofortreaktion kommt manchmal Furcht.
Furcht kann das Pferd durch Neugier selbst überwinden. Bekommt es Angst, kann es schon nicht mehr dazu lernen. Angst kann Pferde bewegungsunfähig machen. Sie erstarren vor Angst und bleiben wie
angewurzelt stehen. Innerhalb kurzer Zeit entscheidet sich, ob sie fliehen oder nicht. Im Zustand der Erstarrung ist ein Pferd noch ansprechbar.
Merkt man beim Reiten, dass das Pony vor irgend einer Situation erstarrt, muss man darauf gefasst sein, dass es im nächsten Moment scheut. Manchmal kann man die Erstarrung lösen. Viele Pferde
reagieren gut auf Ansprechen oder Berühren.
Steigert sich die Angst zur Panik, wird die Funktion des Gehirns auf die lebenswichtigen Funktionen beschränkt und der gesamte Organismus auf “Flucht” oder “Kampf” eingestellt. In Panik ist ein Pferd
nicht mehr ansprechbar.
Ein Pferd ist in Panik nicht mehr zu überzeugen, dass ihm keine Gefahr droht. Die Instinkte gehen mit ihm durch, es schlägt um sich, zerreißt Stricke, Haken oder Anbindebalken, rennt blind davon,
springt auf die Straße und spürt dabei zunächst nicht einmal eine eigene Verletzung. Dieses Verhalten ist eine körperliche Reaktion und für das Pferd nicht mehr kontrollierbar. Das Gehirn wird
ausgeschaltet, das vegetative Nervensystem übernimmt die Steuerung des Verhaltens.
Gerät ein Pferd in Panik, kann der Reiter nur noch dafür sorgen, dass es sich und andere selbst nicht in Gefahr bringt. Notfalls muss man ihm sogar aus dem Weg gehen oder beim Reiten
abspringen.
Manchmal empfindet das Pferd in einem Schreckmoment gleichzeitig Schmerzen, z.B. durch Ziehen am Gebiss. Das wird mit der Situation in Zusammenhang gebracht. Beim nächsten Mal hat es Angst.
Ist die Angst zu groß, entsteht Panik. Dann kann ein Pferd nur noch fliehen. Es geht durch.
Als Reiter verhält man sich bei einem panischen Pferd möglichst neutral. Eigene Angst überträgt sich. Auch “trösten” sollte man ein Pferd nicht. Das Pferd fühlt sich leicht in seiner Angst
bestätigt.
Man bringt sich und das Pferd nach Möglichkeit aus der Gefahrensituation. Hat sich die Panik gelegt, kann man Schritt für Schritt an dem Problem arbeiten. Dabei darf man die Schwelle zwischen Furcht
und Angst, vor allem aber zwischen Angst und Panik nicht überschreiten. Nur ohne Angst lernt das Pferd. Panikerfahrungen löschen oftmals bereits Gelerntes.
Pferde sind ebenso sensibel für positive Reize. Sie empfinden eine entspannte Stimmung sehr intensiv und reagieren sensibel darauf.
Das kann der Reiter nutzen. Dein Pferd wird sich nach einem Schreck sehr schnell wieder beruhigen, wenn es merkt, dass wir selbst nicht ängstlich oder aufgeregt sind. Pferde lernen, selbst
merkwürdigste Dinge zu akzeptieren. Viele Situationen kann man bewusst einsetzen, damit ein Pferd dazu lernt. Wenn es viel Überraschendes gesehen und erkundet hat, gerät es seltener in Panik. Es weiß
dann, dass meist kein Grund zur Flucht besteht. Es hat Vertrauen gelernt.