Freier Wille


Haben Pferde einen freien Willen?     (Trieb oder Persönlichkeit)

Können sie etwas wollen?
Haben sie die freie Wahl?
Was steuert sie?

Pferde sind Fluchttiere. Das ist das Wichtigste, was man in einer guten Reitschule lernt.
Sie sind von einem Verhalten bestimmt, das sie dazu verurteilt, ihr Heil in der Flucht zu suchen, wenn sie ihr Leben in Gefahr sehen. Warum sind dann nicht alle Pferde ständig auf der Flucht, ständig verängstigt, immer gejagt, längst ausgestorben.
So ganz absolut und alles überdeckend kann dieser Fluchtinstinkt also nicht sein.

Theoretiker und Praktiker der Pferdeszene wie auch Biologen haben immer wieder versucht, die Tiere einem ihr Verhalten besonders bestimmenden Verhaltensmuster zuzuordnen.
Pferde rechnet man dem Wanderwild, Herdenwild und Fluchtwild zu. Wildpferde sind einerseits durch ihre Ernährungsweise darauf angewiesen zu wandern, andererseits nicht so wehrhaft, dass sie sich jedem Kampf stellen könnten.
Ihre Stärke liegt in der Gemeinschaft der Herde, in der eine mehr oder weniger feste Rangordnung besteht, Fohlen geschützt werden, Feinde in Arbeitsteilung erkannt und abgewehrt werden. Nur im Notfall greifen Pferde Feinde an; meist ergreifen sie rechtzeitig und gemeinschaftlich die Flucht.

Immer wieder liest man die Theorie, Pferde hätten einen Flucht-„Trieb”.
Definiert man „Trieb“ als endogen ausgelösten Drang, der regelmäßig oder unregelmäßig, aber zwangsläufig und auch ohne adäquate äußere Reize zum Vorschein kommt und sich durch Appetenzverhalten äußert, dann kann man das Fluchtverhalten des Pferdes nicht als Triebverhalten definieren.
Der Fresstrieb oder der Sexualtrieb sind sicher im oben genannten Sinne echte Triebe. Sie bestimmen das Verhalten des Pferdes in jedem Fall. Es sucht immer wieder Gelegenheiten auf, diese Triebe abzureagieren. Wenn keine adäquaten Situationen das Abreagieren ermöglichen, reagieren sie den Trieb auch an ungeeigneten Gegenständen (an Boxentüren in Ermangelung von Futter) oder Nicht-Sexualpartnern  (Sexualverhalten zwischen Wallachen untereinander) ab. Andere Triebe sind Spiel-, Neugier- oder Brutpflegeverhalten. Ein Pferd nimmt gerne einen Hund oder einen Esel als Spielpartner an, selbst wenn artgleiche Spielpartner zur Verfügung stehen.
Ohne ein angeborenes Neugierverhalten könnte ein Pferd sich nicht adäquat mit neuen Umweltreizen auseinander setzen und sie letztlich als gefährlich oder ungefährlich einstufen. Auch das Brutpflegeverhalten ist angeboren, endogen und reagiert auch auf nichtadäquate Reize (Stute adoptiert artfremde Tiere, bemuttert Hund etc.).
All diese Verhaltensweisen sind angeborene Instinkthandlungen, die immer wieder ablaufen. Pferde suchen aktiv Gelegenheiten, ihren inneren Trieb abzureagieren und nutzen notfalls auch inadäquate Auslöser.

Niemals aber würde ein Pferd freiwillig eine Situation aufsuchen, die es zur panikartigen Flucht animieren könnte. Hier zeigt sich eher ein Vermeidungsverhalten. Niemals würde ein Pferd  fliehen, wenn es nicht notwendig ist. (Nicht gemeint ist hier spielerisches Scheuen im Spiel- oder Neugierverhalten). Ein Pferd verspürt sicherlich auch keinen inneren Drang, endlich einmal wieder fliehen zu können, weil das schon so lange nicht mehr vorkam... Vor diesem Hintergrund kann Fluchtverhalten wohl nicht als echtes Triebverhalten im Sinne der Definition angesprochen werden.
Daraus kann man wiederum den Schluss ziehen, dass ein Pferd uns nicht in gefährliche Situationen bringen muss, nur weil es ein Fluchttier ist. Wenn wir es verstehen, Pferden die Angst vor möglichen Panikauslösern zu nehmen oder sie nicht mit entsprechenden Situationen konfrontieren, muss Panikverhalten und Fluchtverhalten im Grunde niemals auftreten.

Einerseits ist die individuelle Reizschwelle für Fluchtverhalten sehr unterschiedlich. Dies macht sich selbst bei einer eigentlich sehr gelassenen und ausgeglichenen Rasse wie den Highland Ponys bemerkbar: das eine Pony ist geradezu begeistert, wenn einer mit einer Bohrmaschine und möglichst viel Lärm in seinem Stall arbeitet, steht mit der Nase dabei und muss Ohrschützer tragen... das andere flieht in Panik, wenn eine Tüte an ungewohnter Stelle raschelt. Die Reizschwelle kann durch Übung verändert werden.

Pferde gewöhnen sich an die ungewöhnlichsten Dinge (Trecker, Busse, Hunde, Menschen auf ihrem Rücken) und zeigen dann Neugier, Spielverhalten oder Ignoranz statt Fluchtverhalten.
Es braucht oft nur wenig Übung, um Pferde die Angst zu nehmen. Der entgegenkommende Trecker löst dann keine Flucht mehr aus, der wild umherspringende Hund wird akzeptiert und freundlich begrüßt. Eine Hecke oder ein Holzstoß im Wald löst bei Pferden Unwohlsein aus, dahinter könnte sich ein Feind verbergen. Es wird zögern. Wer ihm in Ruhe und als vorangehendes Leittier zeigt, dass hinter solchen Hindernissen niemals Feinde sitzen, ein Spiel aus der Situation macht, nimmt die Angst, verhindert eine Flucht und bildet ein verlässliches Pferd aus.

Andererseits birgt die Welt, in der Pferde heute leben, viele tatsächlich bedrohliche Situationen. Allein das Einreiten verläuft für viele Pferde traumatisierend. Bei der Arbeit werden potentiell Schmerzen verursachende Ausrüstungsgegenstände (Sattel) und Hilfsmittel (Gebisse, Sporen, Peitsche) verwendet. Viele Pferde lernen, dass Arbeit mit Schmerz verbunden ist und befinden sich in einem Zustand dauerhaften Stresses.
Sie kennen nach kurzer Zeit die Situationen, in denen ihnen neben dem sehr natürlichen und harmlosen Schreck Schmerzen zugefügt werden.  Die dann arttypische Reaktion ist im Zweifelsfall  erlerntes Fluchtverhalten.

Eine typische erlernte Fluchtsituation entsteht bei Geländeritten. Junge Pferde werden in an sich etwas bedrohliche Situationen gebracht. Sie sollen z.B. an einer Hecke vorbei gehen, hinter der ein junges, unerfahrens Pferd seiner Natur gemäß einen Fressfeind vermutet. Diese Situation allein löst aber nicht wilde Flucht aus. Erst der Reiter, der nervös an den Zügeln zieht, mit wilder Flucht rechnet, auf das Zögern des Pferdes mit dem heftigen Einsatz der Sporen reagiert, seine eigene Angst auf das Tier überträgt,  löst letztendlich die Panik des Pferdes aus. Beim nächsten Ausritt wird es allein schon beim Anblick einer Hecke oder eines Holzstoßes unkontrollierbar sein.

Ein Pferd lebt - wie andere Säugetiere auch - in einem Handlungsspielraum zwischen Instinktverhalten (Triebe etc.) und erlerntem Verhalten (auf der Basis genetisch vorgegebener Verhaltensdispositionen).
Triebverhalten können wir wenig beeinflussen. Allerdings können wir die Reizschwelle verändern, jenseits derer angeborene Verhaltensmuster ausgelöst werden.
Wenn es in Panik gerät kann das Pferd sich nicht entscheiden, ob es flüchten will oder nicht. Angst oder Furcht können beherrscht und ausgehalten werden, Panik aber löst unweigerlich Fluchtverhalten aus.


Die im Erbgut angelegten Verhaltensdispositionen ermöglichen dem Pferd durch Neugier und Lernen eine Anpassung an seine Umwelt. Diesen Mechanismus machen wir uns zunutze, um Pferde zu gewöhnen, ihnen Lektionen beizubringen, sie an eine Umwelt anzupassen, die eigentlich nicht ihre natürliche ist.
Wir können aber durch Gewöhnung und Lernen die Reizschwelle so weit heraufsetzen, dass ein Pferd nicht vor allem und jedem panikartig davonjagt. Wenn es die vermeintliche Gefahr kennen und einschätzen gelernt hat (Hund ist kein Wolf, Reiter ist kein Raubwild von oben), wird es nicht in Panik geraten und seine Energie sparen, statt unnötig zu fliehen.

Im individuellen Lernen liegt vermutlich das Potential zur Entwicklung einer Persönlichkeit. Die Tiere treten je individuell mit ihrer sozialen oder natürlichen Umwelt in Kontakt und bilden somit individuelle Reaktionsmuster. Beim Menschen würden wir das als „Persönlichkeit“ bezeichnen. Jeder Mensch reagiert im Grunde gleich, aber doch individuell in sehr unterschiedlicher, individueller Weise. Er ist also ein Individuum. Unteilbar. Einzigartig. Weil er nicht nur per Schema wie alle anderen Menschen reagiert, sondern aktiv, individuell und kreativ agiert.
Das kann ein Pferd auch. Das eine mehr, das andere weniger. Das Highland Pony kann es scheinbar ein bisschen mehr. Vielleicht ist das so, weil diese Tiere immer in engem Kontakt mit menschlichen Persönlichkeiten, schottischen Bauern und deren Familien, zusammengelebt haben, sich auf die Menschen einstellen mussten, wenig Pferdegesellschaft hatten? Waren sie mehr als viele andere Pferderassen darauf angewiesen, art-übergreifende soziale  Fähigkeiten zu entwickeln? Sie lebten mit Schafen, Hunden, Rindern, Menschen und mussten daher diese seltsamen Wesen verstehen und als Ersatz für eine Pferdeherde akzeptieren? Haben sie eine besondere Fähigkeit zur Empathie entwickelt?
Haben sie eine besonders starke, ererbte Fähigkeit über ihre eigene Art hinaus sozial zu lernen? Suchen sie geradezu soziale Kontakte mit anderen Lebewesen?

Haben Ponys die freie Wahl, sich in Menschennähe aufzuhalten oder draußen auf dem Paddock, so  nutzen viele diese Wahlmöglichkeit. Es geht nicht um Futter. Auch außerhalb der Futterzeiten, wenn das Wetter angenehm ist, keine Fliegen- oder Bremsenplage herrscht und weder im Hof noch draußen irgendwelche Beunruhigung herrscht, suchen viele Pferde ausdrücklich die Nähe ihrer Menschen. Hält sich jemand nahe den Pferden auf - gleich was er da tut - kommen die Tiere dazu  und haben Kino.